Kompositionen
Unendlich ist die Traurigkeit in den Dingen, die keinem Gebrauche mehr dienen. Auf dem Dachboden dieses Hauses, dessen Bewohner ich nicht gekannt habe, liegt das Kleid eines kleinen Mädchens und eine Puppe, der Verzweiflung verfallen.
Vor der Jahre alten Einsamkeit der Dinge hier fühle ich die Gewissheit, dass der eisenbeschlagene Stock dort, der einst fest in die Erde der grünen Hügel gebissen hat, ebenso glücklich wäre, wenn er noch einmal die kühle Frische von Moos empfinden dürfte wie der Sommerhut, der nun trüb erleuchtet vom armen Lichte einer Dachluke daliegt, wenn er noch einmal einen Sommerhimmel sehen dürfte.
Die Dinge aber, die wir liebevoll bewahren, erhalten uns ihre Dankbarkeit und sind immer bereit, uns ihre Seele darzubringen.
Aus Francis Jammes, Das Paradies der Tiere, 1926 (dt. Erstausgabe)
Ausgewählte Alltagsgegenstände aus dem Nachlass verstorbener Personen bearbeitet Claudia Marr in einem technisch aufwendigen Verfahren, um sie in abstrakte Kompositionen zu überführen. Einrichtungsgegenstände, Kleidungs- und Möbelstücke, liebgewonnene Kleinigkeiten durchlaufen einen mehrstufigen künstlerischen Transformationsprozess. Sie werden zunächst in fotografischen Inszenierungen porträtiert, dann zermahlen und schließlich in Säulen gegossen, die der Körpergröße der/des Verstorbenen entsprechen. Die Künstlerin setzt die Materialschichten aus Übriggebliebenem eines ganzen Lebens absichtsvoll übereinander. Farben und Strukturen kombiniert sie bedacht. Nichts wird dem Zufall überlassen, wenn sie die Komposition in ein fragiles abstraktes Porträt des Menschen übersetzt. Das Materielle kommt hier und da zum Vorschein oder verflüchtigt sich. In Auflösung begriffen macht es Platz für diffuse Sinneseindrücke, vage Erinnerungen und ein Ahnen über die emotionale Beziehung des Menschen zu seinen Dingen – war doch die Aufmerksamkeit, mit welcher er ihnen begegnete, essentieller Bestandteil ihres Seins.
Nun wurden sie ihrem eigentlichen Kontext – dem privaten Wohnraum – entnommen und finden sich in einem neuen skulpturalen Raum wieder.
In den Kompositionen erleben die alltäglichen Gegenstände, mit denen sich die Person umgab, und die sie ausmachten, eine neue Wertschätzung. Und dennoch widerfährt den Dingen keineswegs eine Ästhetisierung, sondern sie erfahren losgelöst von ihrer Funktion eine Wandlung. Sie schwinden, werden zu Allegorien des Nicht-Dinglichen, zu Spuren des Abwesenden, ja sogar Undarstellbaren.
In der Abstraktion entsteht das Kondensat eines Lebens, das sich zum Abbild des Vergänglichen verdichtet und sich so dem Vergessen widersetzt. Epilog wirft einen Blick auf das Individuelle menschlicher Existenz und ermöglicht dem Betrachtenden eine Reflexion über Vergangenes, Erinnertes und den Wert des Alltäglichen.